ZEIT ONLINE

2022-06-18 15:51:47 By : Mr. Ysino office abc

Sonntagnacht fuhr ich mit dem Rad von einem Abendessen nach Haus über den Oktoberplatz, auf dem ein fetter gusseiserner Lenin steht und mit seinem Arm die Richtung weist, wobei man nach allerlei historischen Erfahrungen ja eher misstrauisch mit Leninschen Richtungsangaben ist. Ich musste zum Glück in eine andere Richtung. Dort kreuzte ein bemerkenswertes Auto meinen Weg, ein GAZ 21 Wolga aus den 1960er-Jahren, scheppernd und laut und stinkend, aber sehr geradeaus rollend. Der Fahrer, ein junger Typ mit Ziegenbart und knallorangem Hoodie, hatte seinen Wagen komplett mit der Schleifmaschine bearbeitet, herausgekommen war ein Beuys-artiges Kunstwerk aus Chrom, Gummi, Rost und einem Hauch von Restblau. "Scharfe Kiste", dachte ich mir, und so dachten wohl auch zwei Frauen um die 30, die neben mir an der Ampel standen, jede mit einer Flasche Bier in der Hand. Wir schauten dem Vehikel ziemlich fasziniert hinterher und sagten "kruto", was in dem Zusammenhang so viel wie "geil" heißt. Doch dann passierte das, was passieren muss, wenn in Putins Moskau mal einer "kruto" durch die Gegend fährt. Der an jeder Kreuzung unvermeidliche Schupo hob seinen Schlagstock und winkte Wolga samt Fahrer heran. Die Mercedes und BMW fuhren durch, der Fahrer des vaterländischen GAZ 21 Wolga wurde gefilzt. Ich war genauso empört wie die beiden Frauen. Aber im Gegensatz zu mir schritten sie zur Tat. Sie gingen, die Bierflaschen im Anschlag, stracks auf den Polizisten zu und stellten ihn zur Rede. Was er von dem Fahrer wolle. So gehe das nicht. Jeder Mafioso könne hier durchfahren, aber das Volk werde belästigt. Er solle den Wolga-Fahrer sofort weiterfahren lassen. Der Schupo war ziemlich überrascht, kam aber kaum zu Wort, da er von der Großen, Resoluten der beiden sofort unterbrochen wurde. Was ihm einfalle. Er solle hier keine Ausreden erfinden und den Mann fahren lassen. Schweigend gab der Polizist dem Fahrer die Papiere zurück. Der Wolga nahm ruckelnd Fahrt auf, der Polizist starrte auf den Boden, die Frauen gingen weiter. Und ich dachte mir, wenn hier irgendwann mal einer das Gängel-Regime stürzt, dann sind es nicht die Amerikaner, sondern Frauen mit Bierflaschen in der Hand. Das war schon im Februar 1917 so, als der Zar vom Thron kippte. Da war Lenin noch in der Schweiz und wärmte sich den Hintern.

„Da war Lenin noch in der Schweiz und wärmte sich den Hintern.„

Da friert der Hintern eher. Dachte ich zumindest.

Frauen mit Bierflaschen in der Hand (oder ohne). Davajte! Worauf wartet ihr? Das wird dann die erste echte russische Revolution.

Ist doch hier genauso. Ich hab irgendwann aufgehört, zu zählen wie oft ich mit meinen alten Karren angehalten wurde. Drei mal in drei Tagen war Rekord. Manchmal war es richtig lustig - man wird ja routiniert - manchmal nur unendlich dämlich und willkürlich. Mit dem Kauf eines Neuwagens endete das dann vor ungefähr 10 Jahren.

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