Vor 20 Jahren ereignete sich bei Eschede das schwerste Zugunglück in der deutschen Nachkriegsgeschichte. 101 Menschen starben. Was Hinterbliebene und überlebende Opfer in der Zeit danach an Demütigungen erfuhren, macht bis heute fassungslos. Von Peter Wenig
Er wird am nächsten Sonnabend die 33 Stufen an den Bahndamm hinuntergehen, allein vor der Gedenkwand verharren und an den Tag vor 20 Jahren denken, der sein Leben für immer in ein Vorher und Nachher teilte. Die Namen seiner Frau Christl und seiner Tochter Astrid stehen auf dem sechsten der zehn Granitblöcke. Vielleicht wird ein ICE vorbeirauschen, wenn Heinrich Löwen (73) zurück zur Straße schreitet. Vorbei an 101 Kirschbäumen – einen für jedes Todesopfer der ICE-Katastrophe von Eschede.
Am Sonntag wird Löwen dann um 10.45 Uhr an der Gedenkstätte wie jedes Jahr seine Ansprache halten. Diesmal wird der Kreis größer sein: Zum 20. Jahrestag des Zugunglücks von Eschede werden neben Angehörigen auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil und Bahn-Chef Richard Lutz erwartet. Nach der Rede werden die Versammelten schweigen, die Züge drosseln in diesen Minuten auf 60 Stundenkilometer. Genau hier entgleiste am 3. Juni 1998 um 10.59 Uhr der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ und prallte gegen eine Brücke. 101 Tote, 88 Schwerverletzte – das größte Zugunglück der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Vilshofen, ein warmer April-Tag in Niederbayern. Heinrich Löwen wartet schon am Bahnhof. „Mein Haus liegt so versteckt, das finden selbst manche Navi-Systeme nicht“, sagt er. Es ist der Bahnhof, an dem er im Morgengrauen des 3. Juni 1998 seiner Frau Christl und seiner Tochter Astrid ein letztes Mal winkte. Die beiden Frauen fuhren mit dem Regionalexpress nach Nürnberg, stiegen dort in den ICE nach Hamburg um. Die Lehrerinnen wollten sich an der Ostsee über Pfingsten ein paar Tage erholen – eine Auszeit von der kräftezehrenden Pflege der anderen Tochter, Wiltrud.
Auf der kurvigen Fahrt in die winzige Ortschaft Egglham erzählt Löwen von den schwersten Tagen seines Lebens. Von seinen Anrufen bei der eingerichteten Hotline mit Tanzmusik in der Warteschleife – nach Eschede fahren konnte er nicht, da er sich um seine pflegebedürftige Tochter kümmern musste; sie ist blind und geistig behindert. Und er erzählt von seiner Hoffnung, dass die beiden reisenden Frauen überlebt haben, zu den Verletzten zählten, die noch nicht identifiziert wurden. Von der Verzweiflung seines damals 16-jährigen Sohnes Christoph, dessen E-Gitarre durch das Haus jaulte. Am dritten Tag nach dem Unglück klingelten zwei Polizeibeamte: „Herr Löwen, Ihre Tochter ist gestorben.“ Wieder drei Tage später überbrachten Polizisten die Nachricht vom Tod seiner Frau. „Damals habe ich mich gefragt, wie viel Leid eine Familie eigentlich ertragen kann“, sagt Löwen.
Er stoppt nach der Fahrt über verschlungene Feldwege vor seinem Bauernhaus, der Blick reicht weit in den Bayerischen Wald. Auf der Wiese, die zu seinem Anwesen gehört, grasen Galloway-Rinder. Löwen liebt die Ruhe: „Es gibt Tage, da fährt hier nur das Postauto vorbei.“
Fünf Stunden redet Löwen über das Unglück, die Zeit kann er sich nehmen, weil sich bis zum frühen Nachmittag eine Haushaltshilfe um die behinderte Tochter kümmert. Ab und an stapft Löwen in den ersten Stock, um im Bauernschrank nach Briefen, Akten und Zeitungsartikeln zu suchen, die Regale biegen sich unter der Last der Ordner. Dokumente eines Kampfes, der ungleicher nicht sein könnte: hier der milliardenschwere Konzern mit hochkarätiger Rechtsabteilung und Top-Kanzleien, dort der Berufsberater aus Niederbayern. Die Briefe der von ihm gegründeten „Selbsthilfe Eschede“ diktierte er einer befreundeten Angestellten eines Steuerberaters zwischen Job und Pflege der Tochter.
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Sein Kampf begann am Vorabend der Trauerfeier in einem Hotel in Hannover, wo Löwen den traumatisierten Angehörigen erklärte: „Wir sehen uns hier wahrscheinlich das letzte Mal in so großer Zahl, wir müssen die Anschriften sammeln.“ Denn anders als bei Flugzeugunglücken gibt es bei Bahnunfällen keine Passagierlisten. „Ich habe dann einen Hotelmitarbeiter gefragt, ob ich eine Liste im Foyer aufhängen darf, und erfuhr, dass dies nicht erwünscht sei.“ Löwen fertigte dennoch ein Verzeichnis an, bat die Dame am Empfang, ihm die vollständige Liste an seine Heimatanschrift zu schicken – der versprochene Brief kam jedoch nie an. Die Bahn sprach von einem Missverständnis: Ein Polizeibeamter habe die Liste versehentlich eingesteckt und erst mit großer Verspätung bei seiner Dienststelle abgegeben. Löwen mag dies nicht glauben: „Die Liste, die ich dann bekommen habe, war nicht komplett. Was ich schon daran erkennen konnte, dass mein Eintrag fehlte.“
Schon die Trauerfeier empfanden einige Angehörige als ersten Akt einer Reihe von Demütigungen. Platz nehmen durften sie erst ab Reihe 14, die vorderen Bänke blieben für die Prominenz mit Bundespräsident Roman Herzog und Bundeskanzler Helmut Kohl an der Spitze reserviert. Löwen erinnert sich noch gut an die kleinen Zettel : „Bitte behalten Sie Platz, bis die Verfassungsorgane die Kirche verlassen haben.“
Was die Organisatoren als Sicherheitsmaßnahme gedacht hatten, fügte sich für die Schicksalsgemeinschaft in ein Gesamtbild: dort der Staat, hier wir Opfer. Manche Gedankenlosigkeit war wohl dem Chaos nach dem Unfall geschuldet, niemand im Konzern hatte mit einer solchen Katastrophe gerechnet: Briefe des von der Bahn eingesetzten Ombudsmann Otto Ernst Krasney, ehemaliger Vizepräsident des Bundessozialgerichts, trugen den Werbestempel „Fahr mal wieder Bahn“, einem Schreiben lag Werbung für eine Bahncard bei. Einen Schwerstverletzten, der nach zahlreichen Operationen um seine Genesung kämpfte, lud die Bahn zu einem Skiurlaub ein.
Anderes macht fassungslos, etwa das Schreiben eines Bahn-Sachbearbeiters an einen Angehörigen, der seine Frau verloren hatte. Die Bahn zog von der Entschädigung für ein 7000 Mark teures Armband, das beim Unglück zerstört worden war, 93,80 Mark ab. Das war der Schätzwert des Schmelzgoldes aus den Resten des Armbandes, die man dem Ehemann übergeben hatte.
Als „besondere Zuwendung“ – um keine Schuld anzuerkennen, vermied die Bahn den Ausdruck Schmerzensgeld – zahlte der Konzern für jeden Toten 30.000 Mark. Auch zwei Jahrzehnte später spricht Löwen von einem „Skandal“. Dabei weiß niemand besser als er, dass kein Geld der Welt die Liebsten zurückbringen kann. Aber schon angesichts der Schäden an Zug und Strecke von 27,5 Millionen Euro seien die 30.000 Mark ein „Akt der Geringschätzung“.
Die Bahn argumentierte stets, dass die 30.000 Mark deutlich die damals üblichen Entschädigungen für den Verlust eines Angehörigen übertroffen hätten. Zudem habe man für Heilbehandlungen, Hinterbliebenenversorgung oder psychologische Hilfen ein Vielfaches gezahlt, allein bis 2008 seien es 32 Millionen Euro gewesen. Und Ombudsmann Krasney verwies auf den Brief einer Ehefrau, die ihm nach einem unverschuldeten Autounfall schrieb: „Ich habe meinen Mann und meine beiden Kinder verloren und nur 5000 Mark bekommen. Dabei ist mein Schmerz, meine Trauer genauso groß.“
Doch in dem zweiten Eschede-Drama ging es immer um weit mehr als Geld. Und nichts dokumentiert dies so sehr wie die Wand aus Granit, vor der Löwen am Sonntag sprechen wird.
Er zeigt Fotos des ersten Entwurfs für die Gedenkstätte: eine monumentale Anlage aus rostendem Metall, die die Vergänglichkeit der Menschen symbolisieren sollte. „Man wollte buchstäblich Gras über die Sache wachsen lassen“, sagt Löwen bitter. Einem Vater, der bei einer Sitzung zu den Planungen sagte, wie sehr ihn der Verlust seines einzigen Kindes schmerze, wurde beschieden, Schmerz sei relativ. Wenn man sich in den Finger schneide, tue es auch weh.
Offiziell durfte die Selbsthilfegruppe nur beratend an den Planungen teilnehmen. Als der Konflikt eskalierte, ging Löwen – längst Profi im Umgang mit Reportern – vor einer angesetzten Pressekonferenz an die Öffentlichkeit. Er berichtete Journalisten von dem Streit, die öffentliche Stimmung schlug um, die Pläne wurden geändert. „Leider hat man uns dennoch ein zweites Mal gelinkt“, sagt Löwen. Die Gedenkplatte trug zwar jetzt alle Namen, war aber aus belgischem Granit – einem Kalksandstein, der schon nach wenigen Jahren verwitterte. Erst unter massivem Druck durch Löwen wurde die gesamte Anlage neu errichtet, diesmal aus widerstandsfähigem Granit.
Jeden Morgen hinkt Udo Bauch (50) in seine Kapelle. Das linke Bein zieht er deutlich nach, die kleine Kirche schließt er stets mit der rechten Hand auf, mit der linken wäre es ihm fast unmöglich. Dann betet Udo Bauch vor dem geschmückten Altar für die Opfer von Eschede, für seine Familie und dafür, dass sich sein Gesundheitszustand nicht noch weiter verschlechtern möge. Die Kapelle ließ Bauch vor 18 Jahren in seinem Garten errichten – aus Dankbarkeit, weil er das ICE-Unglück überlebte.
Udo Bauch zählt zu den 88 Schwerstverletzten, 17 Tage lag er mit Hirnblutung, doppeltem Schädelbruch, vierfachem Kieferbruch und Frakturen in Oberschenkel und Schienbein im künstlichen Koma. Fünf Operationen retteten zwar sein Leben, mit seiner Teillähmung und psychischen Erkrankungen ist er jedoch zu 100 Prozent schwerbehindert. Mit seiner Frau und vier Kindern lebt er in Eichenzell bei Fulda, auch dank einer privaten Unfallversicherung kommt die Familie finanziell zurecht. „Aber natürlich ist mein Einkommen nicht mehr mit dem einer Führungskraft eines Konzerns vergleichbar“, sagt Bauch.
Der jahrelange Kampf um Entschädigungen hat ihn verbittert: „Nach dem Unfall versprachen Bahnvorstand und Politiker, dass man großzügig und unbürokratisch helfen will. Davon konnte keine Rede sein. Ihr Verhalten war teilweise unmenschlich.“ Sein Buch „Zugunglück von Eschede überlebt“ gleicht in Teilen einer Anklageschrift. So habe der Konzern erst auf anwaltlichen Druck die Hotelkosten seiner Familie während eines Besuchs im Krankenhaus ersetzt. Selbst den 400 Mark teuren ärztlich verordneten Rollator habe die Bahn zunächst nicht zahlen wollen. Als demütigend empfand Bauch die Schreiben der Bahn: „Ich habe persönliche Worte sehr vermisst.“
Nach Eschede wird er am kommenden Wochenende dennoch fahren – wie immer mit gemischten Gefühlen: „Ich habe überlebt. Die meisten werden dort um ihre Kinder, um ihren Ehepartner, um ihre Eltern trauern.“
Der kleine Mähroboter schnurrt über den Rasen, kürzt das Gras Millimeter für Millimeter. „Den habe ich mir vor ein paar Tagen gekauft“, sagt Gerd Bakeberg auf der Terrasse seines Hauses am Bach Aschau. Eine gute Anschaffung, sagt Bakeberg. Der Roboter arbeite präzise und effizient. Vor 20 Jahren waren genau diese Qualitäten gefragt, als er am 3. Juni 1998 um 11.20 Uhr auf ein Trümmerfeld apokalyptischen Ausmaßes blickte. Ein ICE, zusammenklappt wie ein Zollstock, völlig zerstört. Und Dorfbewohner, die mit Ärzten und Rettungssanitätern wimmernde Schwerstverletzte aus den Abteilen zogen.
„Im ersten Moment konnte ich keinen klaren Gedanken fassen“, sagt Gerd Bakeberg: „Doch dann wusste ich, was zu tun ist.“ Als Brandmeister des Kreises Celle verantwortete der inzwischen pensionierte Verwaltungsleiter den größten Einsatz der Nachkriegsgeschichte bei einem Unfall: 1889 Rettungskräfte – von Feuerwehrleuten über Notfallmediziner bis zu Soldaten, die mit Bergepanzern, Transall-Transportflugzeugen und Hubschraubern anrückten.
Dabei kam Bakeberg im Ehrenamt zum Einsatz seines Lebens. Er diente sich vom Mitglied der Jugendfeuerwehr bis zum Kreisbrandmeister hoch. „Zum Glück hatten wir nach den schweren Waldbränden in der Region jährlich Katastrophenschutzübungen gemacht“, sagt Bakeberg. Aber manches ließ sich nicht simulieren. So rutschten die Flex-Winkelschleifer an der Außenhaut des ICEs ab, die Scheiben ließen sich selbst mit Feuerwehräxten nicht einschlagen. „Wir mussten uns über die Stirnseiten der Wagen zu den Verletzten vorarbeiten“, erinnert sich Bakeberg. Eine Lagerhalle in der Nähe funktionierte er zum Krankenlager um.
Noch Tage nach dem Unglück siebten Helfer den Sand der Böschung auf der Suche nach Leichenteilen – manche Opfer wurden durch den abrupten Stopp von 200 km/h auf null zerrissen. Selbst am Sonntag, 120 Stunden nach dem Unfall, entdeckten Hilfskräfte noch einen Torso unter einem Brückenteil.
Anblicke, die Bakeberg als Einsatzleiter erspart blieben. „Aber natürlich habe ich zugehört, wenn meine Kameradinnen und Kameraden ihre grauenvollen Erlebnisse schilderten.“ Notfallseelsorger und Psychologen kümmerten sich um die traumatisierten Retter. Manche lehnten alle Angebote ab, sie seien seelisch stabil genug. Bakeberg fürchtet, dass mindestens zwei seiner Feuerwehrkameraden die professionelle Hilfe besser in Anspruch genommen hätten: „Ich spüre, dass sie das Erlebte weit mehr beschäftigt, als sie nach außen zugeben.“
Ihm selbst habe geholfen, dass er nach dem Unglück ständig über die Lehren aus Eschede referiert habe, in ganz Deutschland, aber auch in Italien, der Schweiz und den Niederlanden: „Damit habe ich das Geschehen verarbeiten können.“ Noch immer hält er in Ausbildungszentren von Feuerwehren Seminare.
Zu den Ersthelfern gehörte auch Joachim Gries. Der Lokalredakteur der „Celleschen Zeitung“ hatte am Unglückstag Urlaub und arbeitete im Garten, als er den Knall hörte. Der erfahrene Reporter packte den Fotoapparat in seinen Fiat und fuhr Richtung Gleis. Die Kamera blieb im Auto, als er das Ausmaß der Katastrophe sah: „Ich habe dann einfach mit angepackt, Verletzte auf Tragen abtransportiert und Infusionsflaschen gehalten.“ Gries wurde erst wieder Journalist, als genügend Profis im Einsatz waren: „Ich habe als Augenzeuge Interviews gegeben, allein aus den USA riefen drei Fernsehstationen an, später befragte mich Radio Neuseeland live.“ Dieses Reden und Schreiben über das Unglück habe ihm psychisch geholfen.
Der Weg in die Kanzlei von Christiane Berger am Schulterblatt führt über ein Tattoo-Studio in den ersten Stock. Die Anwältin vertrat beim Strafprozess in Celle gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Bernd Rosenkranz als Nebenklägerin die Familie eines beim Unfall getöteten Bahnmitarbeiters. In dem Verfahren mussten sich zwei Ingenieure der Bahn sowie ein Mitarbeiter des Radreifenherstellers wegen fahrlässiger Körperverletzung verantworten.
Rosenkranz und Berger waren am Unglückstag im Urlaub auf Elba. „Ein Bahnangestellter, den wir kennengelernt hatten, mutmaßte sofort, dass ein Radreifen gebrochen sei. Die Bahn habe immer wieder Probleme mit den Reifen gehabt“, sagt Rosenkranz. Noch am gleichen Tag tippte der Jurist eine Strafanzeige gegen die Bahn in eine Schreibmaschine, schickte sie per Fax zur Staatsanwaltschaft. Die Anzeige wurde öffentlich, daher nahm die Witwe des Eschede-Opfers Kontakt mit ihm auf.
An den Prozess, eröffnet im August 2002, mehr als vier Jahre nach dem Unfall, haben sie keine guten Erinnerungen. „Man hatte den Eindruck, Geld macht die Musik“, sagt Rosenkranz angesichts der Armada von Juristen und Sachverständigen im Auftrag der Bahn. „Wir hatten keine Chance, die Qualität dieser Gutachten wirklich zu prüfen“, sagt Berger. Rosenkranz ist nach wie vor überzeugt, dass die Bahn fahrlässig handelte: „Die Radreifen (siehe auch Text unten auf dieser Seite) wurden eingeführt, weil sich Reisende über die Vibrationen beschwert hatten. Es hätte andere Lösungen gegeben, doch die waren der Bahn zu teuer.“ Dass die Bahn sofort nach dem Unfall zu den aus einem Stück gefertigten früheren Monoblock-Rädern zurückkehrte, wertet Rosenkranz als „klares Schuldeingeständnis“.
Die Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldbuße von 10.000 Euro für jeden Angeklagten sei für die Opfer demütigend gewesen. Heinrich Löwen ist überzeugt: „Die deutsche Justiz hat versagt. Sie hielt die schützende Hand über das Staatsunternehmen.“ Auf die Anklagebank hätten ganz andere Leute gehört: „Etwa der Technik-Vorstand und die Verantwortlichen für das Totalversagen bei der Überwachung der Radsätze.“
Aus dem Büro von Otmar Kury fällt der Blick auf die Alster. Der Anwalt zählt zu den renommiertesten deutschen Strafverteidigern mit weltweiter Mandantschaft. Auf dem Konferenztisch liegt das Gutachten zum ICE-Unglück im Auftrag der Staatsanwaltschaft, 184 Seiten, 319 Bilder – vom „zerstörten Fahrleitungsmast 60-24“ bis zum „Teilabriss des Wagenkastens“. Kury hat es all die Jahre aufbewahrt. Er verteidigte vor 16 Jahren den Hauptangeklagten, einen damals 67-jährigen früheren Abteilungspräsidenten der Bahn, mitverantwortlich für die Konstruktion des Radreifens.
„Eigentlich müsste es gummigefedertes Rad heißen“, korrigiert Kury. Die Fachausdrücke hat der Anwalt noch immer parat, ein halbes Jahr hatte ihm ein Fachmann der Bahn die komplexe Technik erklärt. Kury reiste zu Experten nach Japan und Schweden, konnte selbst Messungen an Rädern vornehmen. „Ich habe das richtig gebimst“, sagt Kury. Dies sei wichtig gewesen, um für die Auftritte der Sachverständigen gerüstet zu sein: „Die Schlüsselfrage des gesamten Verfahrens war schließlich, ob das gummigefederte Rad dem damaligen Stand der Technik entsprach oder eben nicht.“
Entsprechend versiert trat Kury im Prozess den Experten des Fraunhofer-Instituts entgegen, die schon 1992 den Bahnvorstand vor Radreifenbrüchen gewarnt hatten. „Es gab keine Waffengleichheit in diesem juristischen Kampf“, sagt Löwen.
Andererseits: Darf man der Bahn vorwerfen, dass sie für die bestmögliche Verteidigung ihrer Mitarbeiter sorgte? Zudem passt Kury so gar nicht in das Klischee skrupelloser Anwälte aus Grisham-Büchern, die mit allen Tricks dafür sorgen, dass ihr milliardenschwerer Auftraggeber unbelastet bleibt. Kury, langjähriger Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer, gilt unter Juristen als moralische wie fachliche Instanz. „In einem größeren Verfahren würde ich keinen Freund verteidigen“, sagt Kury über sich selbst. Er meidet sogar gemeinsame Essenstermine mit Mandanten, diese könnte seinen Blick trüben.
Kury versteht die Emotionen der Angehörigen des ICE-Dramas, die fassungslos beobachteten, wie die Angeklagten am ersten Prozesstag erklärten, nur Auskünfte zur Person geben zu wollen. Selbst den Ausdruck des Bedauerns über den Tod von 101 Menschen überließen sie den Anwälten.
Darf man so mit Angehörigen umgehen, die ihre Liebsten verloren haben? „Glauben Sie mir, auch Verteidiger haben eine Seele und können mitfühlen“, sagt Kury. Aber juristisch sei es nun einmal so, dass selbst ein Kopfnicken zu einem Tatvorwurf vom Gericht als Bereitschaft interpretiert werden könnte, sich doch zur Sache zu äußern: „Ein Teilschweigen könnte dann vom Gericht gegen den Angeklagten verwendet werden“, sagt Kury. Deshalb hätten die Verteidiger geraten, das Reden den Sachverständigen zu überlassen.
Der Prozess sei fair gewesen; Löwens Forderung, den Technik-Vorstand der Bahn anzuklagen, sei emotional zwar verständlich: „Aber ein Gericht darf sich davon nicht leiten lassen.“ Wenn ein Vorstand seine Fachabteilung auffordere, Räder zu entwickeln, die dafür sorgen, dass der Kaffee bei schneller Fahrt nicht mehr überschwappt, müsse er sich darauf verlassen können, dass das neue System sicher sei. Und genau dies sei ja auch der Fall gewesen: „Die Räder liefen Millionen von Kilometern ohne einen Ermüdungsbruch. Ein solcher Bruch war nicht vorhersehbar.“ Bahn und Technik seien ihrer Verantwortung „im vollen Umfang gerecht geworden“.
Daher war Kury gegen die vom Gericht vorgeschlagene Einstellung des Verfahrens gegen Geldbußen: „Unsere Strategie war auf einen lupenreinen Freispruch ausgelegt. Aber der Prozess hätte noch Jahre dauern können, diese enorme Belastung wollte ich meinem Mandanten nicht zumuten.“ Der Richter hatte nach acht Monaten und 54 Verhandlungstagen erklärt, dass man nur mit weiteren langwierigen Versuchen herausfinden könne, ob die Angeklagten die Bruchgefahr hätten erkennen müssen. Eine schwere Schuld der Ingenieure sei aber auf jeden Fall auszuschließen.
Zuvor war Löwen mit anderen Angehörigen mit Zivilklagen auf höheres Schmerzensgeld gescheitert. An diesen Verfahren war Kury nicht beteiligt. Er warnt jedoch vor Millionen-Entschädigungen nach US-Vorbild: „In den USA kommt es immer wieder vor, dass selbst Ärzte nicht mehr helfen, wenn sie zufällig Zeuge eines Unfalls werden. Zu groß ist ihre Angst, dass sie ihre wirtschaftliche Existenz verlieren, wenn sie wegen eines möglichen Fehlers verklagt werden.“ Kury verteidigt auch, dass die Bahn alle Schadenersatzansprüche genau geprüft habe. In der Tat gab es Versuche, den Konzern zu betrügen. So forderte ein Mann Schadenersatz, obwohl er gar nicht in dem Zug gesessen hatte. Er wurde ertappt, weil an einem Bahnhof zugestiegen sein wollte, an dem der ICE gar nicht hielt.
Beim Abschied sagt Kury noch, wie ihn Prozesse wie Eschede verändert haben: „Ich habe in meiner Karriere so viel Leid gesehen, dass ich mich privat nicht mehr damit beschäftigen mag, ob ein Eis nun gut schmeckt oder nicht. Das sind nicht mehr die Themen meines Lebens.“
Zum Gespräch mit dem Abendblatt bittet Rüdiger Grube zwischen zwei Terminen in die Lobby des Hotels Vier Jahreszeiten. Nach seinem Ausscheiden als Bahnchef führt Grube den Aufsichtsrat der HHLA, berät Top-Kunden einer Investmentbank und lehrt an der Technischen Universität Hamburg.
Obwohl Grube erst elf Jahre nach der ICE-Katastrophe an die Spitze des Konzerns rückte, spielt er in dem Drama eine wichtige Rolle. Denn Grube sprach am 3. Juni 2013 an der Gedenkstätte die Worte aus, auf die die Eschede-Opfer 15 Jahre gewartet hatten: „Wir können den Unfall nicht ungeschehen machen, aber wir wollen uns für das entstandene menschliche Leid bei Ihnen entschuldigen. Auch wenn wir damit nichts ungeschehen machen können, bitten wir Sie, unsere Entschuldigung anzunehmen, sie kommt wirklich von ganzem Herzen.“
Dann reichten sich Löwen und Grube die Hand. Und niemand war in diesem Moment so bewegt wie der Bahn-Chef: „Ich hatte großen Respekt. Das Verhältnis mit den Angehörigen war völlig zerrüttet. Es hätte auch passieren können, dass Heinrich Löwen meine ausgestreckte Hand ignoriert.“ Stattdessen sagte Löwen: „Auf dieses Zeichen der Menschlichkeit haben wir lange gewartet. Unser Leben wäre leichter gewesen und manche Bitterkeit nicht entstanden, wenn es früher gekommen wäre.“ Die Bahn druckte die Redemanuskripte später als Broschüre mit dem Titel „Die Eschede-Versöhnung – Dokumentation der Schlichtung“.
Was aber in den Stunden vor dem Händedruck geschah, fehlt in dem Büchlein. Denn erst auf der Zugfahrt nach Eschede schrieb Grube seine Rede entscheidend um. An der ursprünglichen Version hatten Juristen stundenlang gefeilt – die Entschuldigung sollte auf keinen Fall wie ein Schuldeingeständnis wirken. Als Grube das vorbereitete Manuskript noch einmal gründlich las, sagte er zu seinem mitreisenden Kommunikationschef: „Ich gehe da noch mal ran, die Entschuldigung kommt gar nicht richtig rüber.“ So entstanden die entscheidenden Sätze kurz vor der Ankunft in Eschede. Und unmittelbar vor der Zeremonie traf sich Grube zu einem Vier-Augen-Gespräch mit Löwen.
Ohne diese Aussprache vor fünf Jahren wäre der neue Bahn-Chef Richard Lutz kaum am Sonntag dabei, beim zehnten Jahrestag waren Konzernmanager noch ausdrücklich unerwünscht. Für den Vorabend hat der einstige Einsatzleiter Bakeberg wie jedes Jahr Löwen zum Essen eingeladen, die beiden sind gute Freunde geworden. Über das Unglück, sagt Bakeberg, reden sie bei ihren Treffen nur noch selten.
Ein Video zum ICE-Unglück auf abendblatt.de
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